Neu ist immer besser?!

Neu ist immer besser?!

Wer will schon etwas Altes, Gebrauchtes, womöglich Überholtes? Da ist es doch besser, gleich die neueste Methode auszuführen! Oder?


Wer kauft schon die Kollektion vom letzten Jahr? Wer will nicht auch das haben , was jetzt gerade Trend ist?

So Ähnlich ist es auch über die Jahrhunderte mit der Reitkunst. Auch sie ist Moden unterworfen, entspricht immer einem Zeitgeist und der Gedanke, dass das Neue immer und grundsätzlich besser sein muß als das Alterhergebrachte treibt auch viele Reitmeister der Vergangenheit an, ihren Werken und Lehren möglichst den Anschein eines " neu erfundenen Rades" zu geben. Denn wer will schon eine Lehre lesen, die womöglich beschreibt, was man immer schon gemacht hat...das ist ja, wie den Rat der eigenen Eltern annehmen!

 

"Untersuche ihn. Es mag sein, dass etwas in einem Körperteil nicht in Ordnung ist, oder vielleicht mit seinem ganzen Körper: Er ist vielleicht mit Mängeln behaftet, es fehlt ihm vielleicht an Kraft, oder er ist nicht leicht genug; vielleicht mangelt es ihm an beiden; kurz, er widersetzt sich und rebelliert. Überlege, ob er weiss, was er tun soll oder nicht. Weiss er es nicht, dann unterrichte ihn; Wenn er es weiss, aber nicht die Fähigkeit besitzt, es auszuführen, dann bemühe Dich, die Natur mit Hilfe der Kunst zu unterstützen, so gut es geht."

 

(Richard Berenger, 1771)

 


William Cavendish, Herzog von Newcastle, war einer der Reitmeister, die sich den Anschein eines " extraordinären", also außergewöhnlich ( guten!) Könners geben wollten. In seinem Werk setzt er sich jedoch wie kaum ein Zweiter mit vielen Lehren Anderer auseinander, bezieht sich auf diese, ahmt sie sogar nach. Was außergewöhnlich bleibt, ist nur ein einziges Detail, das sich dann im Laufe der Zeit nicht durchsetzen konnte. Andere Inhalte aus Newcastles Arbeit hindoch arbeiten wir noch heute ganz genau so- oft unwissend und ohne es ihm zuordnen zu können.


Heute sehen wir uns mit ganz vielen, oft viel zu vielen Wahlmöglichkeiten konfrontiert. Wir wissen nicht: ist das jetzt ein Trend? Ist das wirklich wahr? Oder " fake news"? Glauben scheint heute ein großer Teil von Wissen zu sein und vielleicht trickst das Bauchgefühl den Einen oder Anderen aus, sich dem anzuschließen, der seine Religion besonders glaubhaft, vielleicht mit gesundem Halbwissen oder einigen Schlagwörtern gewürzt, oder aber möglichst mysteriös umschrieben und nur dem Erleuchteten greifbar, vielleicht sogar mit eigenen Begriffen und Bezeichnungen, also eigener "Geheimsprache" , transportiert. " Das EINZIGE Institut, das weiß wie...", " Alles Anderen sind bloß Neider..." , "Nur WIR wissen, wie- sei auch DU Teil unserer wissenden Gemeinschaft...": das hört sich alles verlockend an! Mit großen Selbstbewußtsein vorgetragen, kann dann ja auch nichts falsch sein, sonst gäbe es doch Zweifel, oder ? Und ist es nicht toll, ein Andersdenker, ein "Aufgeklärter" zu sein? Endlich alles richtig zu machen? 

Ja, das gibt dem PFerdebesitzer Halt, es gibt Gebote und regelmäßigen Austausch, in dem die " Community" zusätzlich versichtert, man sei auf dem Weg ...fühlt sich gut an!

Aber auch für das PFerd?


Neu erfunden? Von wegen! Newcastle nutzt die Pilarenarbeit, die wir nachweislich seit der griechischen Antike beschreiben finden. Über Italien findet sie ihren Weg in der Renaissance nach Europa.


Das ist kein Phänomen der Neuzeit! In fast jeder Reitlehren finden wir Ausführungen dazu, dass sich der Verfasser echauffiert und mitleidig zeigt für die PFerde alljener, die solchen " Angeboten " auf den Leim gegangen waren. Oft genug sahen sie sich auch mit der Korrektur dieser Pferde konfrontiert und mußten auch das eine oder andere Mal aufgeben, weil Pferde so verdorben waren, solch ein Misstrauen gegen den Menschen entwickelt hatten, am Körper solchen Schaden genommen hatten, dass nichts mehr zu retten war. Einen Menschen, der empathisch und voll Liebe zum Geschöpf Pferd ist, muß das zwangsläufig nachhaltig treffen.

"Leider ist es unglaublich, wie viel Unverstand gerade in dieser schönen Kunst zutage tritt, weil jeder unfähige oder leichtsinnige Mensch, der in anderen Fächern kein Fortkommen sieht, sein Glück als Bereiter versucht. Ohne jede wissenschaftliche Kenntnis der Aufgabe, oft selbst ohne die nötige körperliche Befähigung dazu, beginnt er, nun das edelste Geschöpf unserer Tierwelt handwerksmäßig, wie der Tischler das Holz, nach der Schablone zu bearbeiten und ruht nicht eher, bis es entweder gänzlich zerbrochen oder sein Meister und Herr geworden ist . Anstatt die natürlichen Bewegungen des jungen Pferdes durch Sitz und Hlfen zu fördern, stört und hemmt er sie durch seine eigene steife Haltung, durch unnatürliche Aufrichtung der Vorhand und durch die Härte und Unzeitigkeit seiner Hilfen. So unterdrückt er nach und nach alle Fähigkeiten des PFerdes, und wenn er es zum Krüppel gemacht hat, wird er es seiner von Natur schlechten Beschaffenheit zugeschoben. "

Gustav Steinbrecht, 1885


Nur ein Beispiel einer " innovativen Lehre" in der Geschichte der Reitkunst: "Obgleich nun Baucher in arroganter Sprache sämmtliche Stallmeister alter und neuer Zeit, nicht nur Frankreichs, sondern aller Staaten, als unwissende und nichtdenkende Reiter schildert , sich als die Sonne der Reiterwelt aufstellt und alle bisher bestandenen Prinzipien umzustoßen bemüht war, so bewiesen dennoch alle angestellten Versuche und die aus diesen hervorgegangnen Resultate , " daß die in seiner Methode enthaltenen guten Prinzipien längst gekannt, und seine neuen sich wohl zur Dressur und Produktion seiner Kunstpferde im Circus, doch nicht zur Dressur eines Kampgnepferdes, das im Freien getummelt werden soll, eigneten , sich für das letzte sogar im höchsten Grade nachtheilig heraustellte." [...] Baucher`s Methode wurde, in Folge ihrer Unzweckmäßigkeit, in Frankreich, wo sie versuchsweise in mehreren Regimentern der Armee eingeführt war, wieder aufgehoben und erfuhr auch in allen anderen Staaten nach Überzeugung unbefriedigender Resultate, keine fernere Beachtung ",  rüssiert Seidler, einer der schärfsten Kritiker Bauchers. Letzterer war bekannt für sein hervorragendes Timing im Umgang mit dem Pferd, das keine Chance hatte,seiner Einwirkung zu entgehen: er rühmte sich, jedes Pferd innerst kurzer Zeit zu brechen, um es reitbar zu machen.  Das hat mit Arbeit zum Benefit des Pferdes nichts zu tun.

Stressgesicht, aufgrissenes Maul , voll angezogene Kandare, Spannung im gesamten Pferdekörper: mit der Anmut und "Zierlichkeit" der "tanzenden" Pferde überhaupt nicht zu vergleichen und heute kein Vorbild mehr für denkende und fühlende Pferdebesitzer !

Er predigte zwar Leichtigkeit, aber zeitgenössische Malereien halten fest, mit welchen Methoden er sich in die Lage versetzte, sich PFerde gefügig zu machen. " Effet d´Énsemble"- der gleichzeitige volle Einsatz von Gebiss und Sporn,  "Cession de machoir "- das manipulative passive Bewegen des Unterkiefers, der es dem Pferd unmöglich machen sollte, Spannung gegen die Hand zu zeigen: diese und weitere  von Baucher beschriebene und angewandte Techniken, die das Pferd in den völligen Gehorsam des Reiters bringen sollten, galten zu seiner Zeit schon als sehr umstritten, weil sie dem PFerd seine natürlichen Kräfte und Gänge nahmen und dem PFerd vor allem mental großen Schaden zufügen. Einen Dialog auf Augenhöhe suchen wir hier vergeblich. Trotzdem hat Baucher bis in die heutige Zeit Anhänger, die ihn geradezu mystifizieren und das als Bauchers Erkenntnisse hochhalten, was wir bei genauem Hinsehen schon bei etlichen Reitmeistern vor ihm finden- bloß weniger kompliziert oder aber konkreter beschrieben.


Das Pferd, dessen Wohl ja eigentlich der Sinn eines jeden Trainings ist- oder zumindest aus ethischer Sich sein sollte- gerät bei diesen Dingen oft in den Hintergrund. Das Hinsehen, das ehrliche Reflektieren geht verloren. Der Blick über den Tellerrand wird plötzlich zum Verstoß, jede Kritik ist verboten, denn der Weg zur Erlösung ist ja klar vorgezeichnet...schweift vom Thema PFerdeausbildung ab? Ja, nicht wahr? Geht es überhaupt um Pferdeausbildung dabei?


Flexionen des Halses wie hier bei J. Fillis, einem glühenden Nachahmer Bauchers,  ein Abbiegen an der Halsbasis ist das Gegenteil von dem, was die Alten Meister in Renaissance und Barock lehren und wozu die Reitkunst ganz kurz nach Baucher wieder zurückkehrte: das Pferd sollte im Halsansatz " stet" sein. Nur so, wissen wir heute dank bildgebender Verfahren zB rings um die Erforschung der Faszien, bleiben die Strukturen, die den Brustkorb des Pferdes tragen, gesund und das Pferd kann sogar mit einem Reitergewicht belastet werden.

Schon im Stand wird eindrücklich geformt : form follows function ist einer der wichtigsten Grundsätze der Faszienarbeit. Die Strukturen, die wir im Stand schulen, müssen gesunde Bewegung und optimale Versorgung des Gewebes herstellen...

...sonst führen sie letztlich zum sogenannten "Trageerschöpfungssyndrom", das Fehlbemuskelung und Schäden am Pferdekörper in allen rot umkreisten Bereichen erzeugt.


Mit der Reitkunst ist es so, dass sie voller Paradoxen zu stecken scheint: sie braucht feste Regeln, ein System, darf aber nicht starr sein und dogmatisch. Sie fördert durch Übungen und Lektionen das Pferd, darf es aber nicht überfordern. Sie tut dem einen Pferd mit einer Übung heute das optimal Beste, während es morgen daran verzweifelt. Dieselbe Übung schadet einem anderen PFerd heute und bringt ihm morgen größten Benefit. " One fits All", eine Übung, eine Übungsabfolge gleich einer Choreographie für alle, bei der man sicher sein kann, dass sie nützlich und perfekt ist: das ist doch der größte Traum!

Leider jedoch wird genau das für so viele Pferde zum Albtraum, die sich plötzlich in eine Lehre fügen müssen. Was nicht passt, wird passend gemacht!

Aber wäre es nicht viel sinnvoller, eine Lehre dem Pferd anzupassen als umgekehrt?

"Das Pferd ist und bleibt Überhaupt der beste Lehrmeister. Wer dressiert und Achtung gibt, welche Fehler das Pferd macht, der weiß, wo er zu arbeiten hat. Deshalb muss man den Pferden für ihre Fehler und Wiedersetzlichkeiten dankbar sein, aber nicht in Zorn geraten und dieselben dafür bestrafen, sondern belehren."
(B.H.v.Holleuffer, 1896)


Ein Pferd ist kein Biomechanikautotmat und kein Werkzeug des Menschen, um zu profilieren , darzustellen oder was auch immer. Ein PFerd ist ein Individuum wie Du und Ich und kann jedem Menschen, der gewillt ist , zuzuhören , jede Menge darüber erklären, " wie PFerde das so machen".

Nein, nicht blind nachturnen, was wir in alten Schriten finden, sondern klug auswählen- das muß heute unsere Maxime in der Ausbildung unserer Pferde sein. Vieles kann uns heute nicht mehr gelten, Anderes ist aktueller denn je.


Vorsicht: wer in der Reitkunst Abkürzungen sucht, landet schnell auf dem Holzweg und , ehrlich gesagt, betrügt er sich um das Vergnügen der Reise, auf der er sein Pferd begleitet.

Wie so eine Reise aussehen könnte: darüber haben wir seit mindestens 500 Jahren ausgiebige Literatur, die uns Vorschläge unterbreitet, einen Werkzeugkoffer gibt, aus dem wir lernen müssen- und heute auch können! - , klug und durch genaues Hinsehen auf das Verhalten unseres Pferd im rechten Moment das richtige zu tun im richtigen Maß ZUM  WOHL DES PFERDES in DIESEM MOMENT: " misura" entsteht, ein Begriff, der in der Renaissance genau diesen Moment völliger Übereinstimmung von Zweck und Mittel bezeichnet.

Reitkunst ist eben Kunst für den Augenblick und wie alle Kunst eine ganz individuelle Sache. So viele Pferde es gibt, so viele Wege in die Reitkunst gibt es. So viele Pferdebesitzer es gibt, so viele Herangeehnsweisen kommen hinzu.

Und so wird wohl für alle Zeit derjenige, der wirklich auf der Suche nach wahrer Reitkunst ist, im Zweifel bleiben...und das ist auch gut so!

 "Belügt euch bei der Arbeit nicht selbst. Nicht derjenige, der ständig für die eigenen Fehler Ausreden findet, sondern derjenige, der stets unbeirrt der wirklichen Leistung gegenübersteht und mit echter Liebe und Passion zum Pferd durchhält, kann nach langer, mühevoller Arbeit dem angestrebten Ideal nahekommen. Jeder wirkliche Reiter weiß, dass des Lernens kein Ende ist, und gerade diese Erkenntnis ist es, die ihn für sein Leben an die Reitkunst fesselt. Ihr sollt eure Pferde lieben, ohne sie spielerisch zu verwöhnen. Bemüht euch, in die Seele des Pferdes einzudringen, ohne sie vermenschlichen zu wollen. Meister kann nur derjenige werden, der nicht bloß körperlich, sondern auch geistig mit seinem Pferd zu harmonischer Einheit verwächst. "

R. Wätjen , nach W. Seunig