Kuckuck! Wo bin ich?!

Kuckuck! Wo bin ich?!

Der ehrliche Blick auf das eigene Pferd fällt vielen Pferdebesitzern schwer. Verständlich, will man doch alles richtig machen. Doch was ist das Richtige?

„Kannst Du das Pferd sehen?“ ist die erste Frage , wenn es um die Wahrnehmung geht. Das ist für viele Pferdebesitzer gar nicht so selbstverständlich und einfach, wie es im ersten Moment scheinen mag.

 

„ Die Kenntniß der Natur des Pferdes ist eins der ersten Hauptstücke der Reitkunst, worauf jeder Reiter vorzüglich studieren muß“ , erklärt Francois Robichon de la Gueriniere ( Ecole de Cavallerie, 1733)

 

Doch was ist die Natur des Pferdes? WER ist mein Pferd?

 

Gerade dann, wenn man täglich Zeit mit dem Pferd verbringt neigen Pferdebesitzer dazu , das Pferd nicht mehr wirklich sehen zu können, mit der Zeit schleicht sich eine gewisse Betriebsblindheit ein. Antoine de Pluvinel lehrt in seiner „Maneige Royal“ ( 1623), man müsse im Umgang mit dem Pferd stets den Krieg mit dem Auge führen, will heißen, man solle sich nicht selber betrügen, sei es aus Wunsch dem Pferd zu helfen, dem Wunsch, etwas erreicht zu haben, geschätzt zu werden, dem Bestreben, alles optimal zu gestalten für den Partner Pferd. Ganz oft ist es auch Selbstschutz, der dazu führt, dass man nicht mehr ehrlich des Pferd sieht, wie es in diesem Moment ist, sondern so, wie es sein soll.

 

Wenn das Pferd unser Spiegel ist und das Auge der Spiegel der Seele- was sehen wir dann über uns im Auge unseres Pferdes?

Das echte Pferd , das eigentlich im Vordergrund steht, rückt mehr und mehr in den Hintergrund bis der Hintergrund so bedeutend wird, dass der Vordergrund verblasst und verschwindet.   „ Ist mein Pferd zu dick? Zu dünn? Braucht es eine Decke oder nicht? Ist es übertrainiert oder untertrainiert?“  sind Fragen die viele Pferdebesitzer nicht objektiv beantworten können, zu eng ist die Antwort an eine Emotion beim Pferdebesitzer gekoppelt. Der Druck, der dem Pferdebesitzer dabei entsteht,  hat auch Konsequenzen für das Pferd. Mit der Zeit ändert sich die Beziehung, das Pferd wird vom gekümmerten, umsorgten Partner zum abstrakten Objekt der Bemühungen, oftmals wird über eigene Grenzen hinweg gepflegt, gehegt und gearbeitet.

 

Wie beim Kinderspiel " Kuckuck" muss man darauf achten, dass das Pferd nicht hinter dieser Mühe und dem eigenen emotionalen Bedürfnis wie hinter vorgehaltenen Händen verschwindet, man es nicht ausblendet. Ist es wirklich das Pferd, für das wir da leisten oder gibt es uns ein gutes Gefühl geleistet zu haben?

 

 

"Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen" gilt nicht im Umgang mit dem Pferd. Ganz im Gegenteil: jede Regung des Pferdes muss interessieren, jede Information ist wertvoll.

Probleme hat natürlich nur der, der sie sieht. Schließt man dauerhaft die Augen vor Problemen und sieht nicht ehrlich hin, werden diese nicht verschwinden, ganz genau so, wie beim Kinderspiel „ Kuckuck“ niemand verschwindet, der die Hände vor die Augen hält. Auch wenn die Anderen nicht mehr sichtbar sind, bleibt man sichtbar für die Anderen.

 

Vor allem in der Ausbildung von Pferden kommt es zwangsläufig zu Problemen, weil zwei artfremde Wesen sich in einer gemeinsam geschaffenen Kunstsprache austauschen. Diese Kunstsprache namens Reitkunst wird heute erstmals in der 6000 Jahre dauernden gemeinsamen Geschichte von Mensch und Pferd von Pferdebesitzern ausgeübt, die außer genügend finanzieller Mittel keine weiteren Voraussetzungen brauchen, um sich ein Pferd leisten zu können. Während jahrhundertelang, ja , Jahrtausende lang Wissen um das Wesen Pferd vom Vater an den Sohn, vom Onkel an den Neffen , vom Lehrer an den Schüler weitergegeben wurde, haben wir erstmals eine Situation, in der Laien unausgebildete Pferde selber ausbilden wollen, sobald sie es sich nur leisten können, ein Pferd zu kaufen. Doch können sie leisten, was ein Pferd bedarf, um zufrieden zu sein?

 

Der anfängliche Traum vom eigenen Pferd führt nicht selten schnell zur Ernüchterung . Auch in diesem Fall werden Dinge oft falsch eingeschätzt, weil nicht das Pferd, sondern eine projizierte Version, ein Abziehbild vom Pferd gesehen wird. Viele „dominante“ Pferde verstehen die ihnen gestellte Aufgabe schlicht nicht, sind überfordert oder unsicher, haben Schmerzen im Bewegungsapparat oder den Hufen und machen dann beim Training das, was ein Pferd seiner Natur als Fluchttier gemäß unter Stress macht: sie laufen oder setzen Stress in andere pferdetypische Bewegungen um. Oder aber ein Pferd ist anstatt vermeintlich „ büffelig“ , „ ungezogen“  und „distanzlos“ eigentlich introvertiert, vor Schreck erstarrt oder unbalanciert und ängstlich. Dieses „Fehlverhalten“ wird dann aus Hilflosigkeit und auf Rat von Stallkollegen oder Laientrainern – für einen „richtigen“ Trainer, der sich seine Arbeit dementsprechend bezahlen läßt, ist das Problem vermeintlich nicht groß genug- rigide abgestraft, was zu weiterem Stress führt. Missverständnisse werden hier nicht gelöst werden können, die Meinung über das Gegenüber verhärtet sich – auf beiden Seiten. All das geschieht nicht, um dem Pferd Schaden zuzufügen, sondern ganz im Gegenteil, aus dem Wunsch heraus, mit dem Pferd zu einer Einheit und Harmonie zu kommen. Lediglich Unwissenheit ist der Stolperstein in so einer Sache, der aber nicht mit Sätzen wie „ Setz Dich mal durch“ oder „ Der nimmt Dich schon wieder auf den Arm“ abgeholfen werden kann, sondern das Bild vom eigenen Pferd als Gegner oder gar Feind mehr und mehr bestärkt und den hilflosen Pferdebesitzer immer mehr in eine Position bringt, die er sich so überhaupt nicht gewünscht hatte.

 

" Scientia versus Robur"- Wissenschaft statt Gewalt. Das Motto von Antoine de la Baume Pluvinel (1555- 1620). Erstaunlich modern? Mitnichten; sein Werk " Le Maneige royal" erschien erstmals 1623. Wer weiß, ist nicht hilflos, wer nicht hilflos ist, braucht keine Gewalt, um seine Wünsche zu vermitteln.


Das Einzige, was hier hilft ist das Hören auf das eigene Bauchgefühl und vor allem: das Aneignen von Wissen über Pferde und nicht von Meinungen anderer Pferdebesitzer. Dann kann man verantwortlich handeln und sinnvolle Entscheidungen für sich und sein Pferd treffen. Nur der, der gebildet ist, kann sich eine Meinung bilden.

 

Jeder Empirismus hat hier Grenzen, Erfolg in der Pferdeausbildung ist oftmals eine Frage des Standpunkts und muss immer mit der Frage nach dem Erfolg in wessen Augen überprüft werden. Das kann ja durchaus variieren, viele Dinge, die das Pferd für Menschen nutzbar machen, sind alles andere als nützlich für das Pferd. Fügt das Pferd sich nicht in der erstellte Gedankenkonstrukt, dauert dann , trotz bester Absichten des Pferdebesitzers, das vermeintliche „ Fehlverhalten“ des Pferdes an, werden sie schließlich als Problempferde empfunden. Hier sollte man sich allerdings immer fragen, ob das Pferd dieselben Probleme auch hätte, wäre der Mensch nicht dabei oder ob die problematisch empfundene Situation wirklich für das Pferd oder eher den Menschen schwierig ist. Oder aber hat das Pferd ernste Probleme, die nicht wahrgenommen, für als nicht so schlimm erachtet oder ignoriert werden? Es ist keine Schande, etwas nicht zu können oder nicht zu wissen, aber es kann schwierig sein, wenn das eigene Können und Wissen überschätzt werden. Gut gemeint ist lange nicht gut gemacht und es ist immer der Empfänger, der die Botschaft bestimmt.

 


Pferde haben eine ganz andere Wahrnehmung der Welt als Menschen, haben andere und anders ausgebildete Sinne. Schon allein deshalb können wir unser Erleben nicht mit dem Erleben des Pferdes gleichsetzen. Darüber hinaus ist jedes Pferd, wie wir Menschen, geprägt durch sein individuelles Erleben aufgrund seines Charakters und persönlicher Erfahrungen. Jedes System, in dem ein Pferd uniform ausgebildet wird, muss deshalb zwangsläufig entweder scheitern oder aber das wirkliche Ergebnis ignorieren. Die Schulung des Pferdes ist und muss immer eine individuelle sein. 

Leider hat das Pferd nicht die Wahl, seinen „Problemmenschen “abzugeben, zur Schulung zu schicken oder sich Therapeuten, Tierärzte, Hufschmiede oder Trainer zu engagieren, die ihnen gut tun, sondern der Pferdebesitzer trifft die Entscheidung. Oftmals ist der Pferdebesitzer dem Rat des Fachmanns oder der Fachfrau hilflos ausgeliefert, weil das eigene Wissen nicht ausreicht, um hilfreiche von nutzlosen Dingen unterscheiden zu können. Doch Vorsicht: unser Gehirn neigt dazu, uns regelrecht zu betrügen, neurologische Impulse, die nicht zu einer erstellten Ordnung gehören, werden schlichtweg in der Wahrnehmung aussortiert, erklärt Neurobiologe Gerald Hüther. Schafft das Engagement von Fachleuten auch zuerst Erleichterung, weil man ja tätig geworden ist, entbindet es trotzdem nicht von der Verantwortung für das eigene Pferd. Einzig das Pferd entscheidet mit seinem langfristigen Verhalten , ob der Therapeut, Trainer, Hufpfleger, etc. wirklich sinnvoll gearbeitet hat.

 

Ist das Pferd fit? Kann und will es sich bewegen? Das ist ein guter Hinweis darauf, dass wahrscheinlich alles in Ordnung ist.

Auch kann der Wunsch nach sinnvoller Beschäftigung für das Pferd in einer enormen Bandbreite vom Pferdebesitzer als Sinnvoll oder sinnlos wahrgenommen werden. Im Bestreben, den Körper optimal zu trainieren, werden Trainingsdauer und – intensität so übertrieben, dass das Pferd eigentlich mehrere Tage Ruhe bräuchte, der Geist des Pferdes wird oft vergessen. Im Bestreben, den Geist des Pferdes anzusprechen, wird für tägliche „ Abwechslung“ gesorgt, bei der das Pferd mit ständig neuen Reizen konfrontiert wird und das Pferd nicht zufrieden, sondern regelrecht erschlagen ist. Beides, in Maßen, wäre genau richtig: das Pferd braucht Routine und Abwechslung, es braucht körperliches Training ebenso wie mentale Förderung. Aber in welchem Maß? Und ist das Maß heute oder sogar in diesem Moment noch dasselbe wie gerade oder gestern ? Pferde sind hochkomplizierte Wesen, „ einfache“ Trainingsanleitungen können dem einen Pferd großen Nutzen bringen, während sie dem anderen Pferd keinerlei Benefit verschaffen oder sogar schaden. Gut gemeint ist lange nicht gut gemacht und es ist immer der Empfänger, der die Botschaft bestimmt.

 

"Aufeinanderfolgungs-ordnung" nennt Pluvinel die regelmäßige Arbeit mit dem Pferd, die in seinen Augen vor allem logisch und auseinander so aufbauend sein muss, dass das Pferd zusehends an körperlichen und mentalen Fähigketien gewinnt, ohne überfordert zu sein. Durch Routine findet es Sicherheit in der Arbeit, ein einziger neuer Impuls in jeder Arbeitseinheit sorgt für Weiterbildung. Ob es sich u Hilfengebung, neue Übungen oder Anderes handelt: wird die Arbeit durch etwas Neues schlechter, geht man dahin zurück, wo das Pferd noch verstehen konnte.


Ist unser Wunsch, Zeit mit dem Pferd schön zu verbringen für das Pferd sinnvoll oder kann es vor lauter „ Blödsinn machen“ nicht mehr erkennen, was der Sinn hinter unserem Tun ist? Oder aber verharmlosen wir verbal das, was wir eigentlich mit dem Pferd tun, wenn wir „ gemeinsam Spaß haben“? Ist Spaß wirklich immer Spaß, auch für das Pferd ,oder ist es uns ganz Ernst, was wir da verlangen? Ist das, was wir uns selbst und Anderen als „Spaß“ verkaufen überhaupt etwas, was in der Natur des Pferdes liegt oder etwas, was unserem Bild von unserem Pferd , unserer Beziehung, einer gewünschten Wirkung auf Dritte entspricht? Machen wir mehr Druck mit unserer Erwartungshaltung an das Pferd, als wenn wir etwa physisch strafen würden? Ist unser „Spaß“ wirklich eine freie Entscheidung des Pferdes mitzumachen oder ist allein das Gefühl, den Menschen enttäuscht zu haben schon so viel Druck, dass Verweigern keine Option mehr ist? Ist unser Bestreben, möglichst für Dritte sichtbar zu machen, was man sich bedeutet, überhaupt so notwendig?

 

Ist das wirklich Liebe, was wir da leben?

 

 

Wenn man jemanden liebt, sollte man diesen nicht von der Last der eigenen  Erwartungen befreien?

 

Oder,  frei nach C.G. Jung: "Wenn es irgendetwas gibt, von dem wir uns wünschen, dass es sich in  unserem Pferd verändert, sollten wir zuerst überprüfen, ob es nicht etwas ist, was wir in uns verändern sollten." Will heißen: Zufriedenheit und Glück sind immer eine Entscheidung der persönlichen Wahrnehmung und nicht etwas, was uns von außen zugetragen wird. Gerade in der heutigen Zeit scheint das Außen oft so in den Vordergrund zu rücken, dass das Innen nicht mehr wichtig scheint, obwohl es doch das eigentlich Elementare ist.

 

Was ist die Natur des Pferdes? Sitzen, liegen oder Kunststückchen machen sind für das Pferd zwar möglich, jedoch entsprechen sie nicht seiner Natur als Lauft- und Fluchttier.Löhneysen , hier in seinem Werk " Della Cavalleria" verurteilt diese für das Pferd unnatürlichen Dinge schon 1609 " als eines Gauklers, jeodch nicht Reutersmann würdig, die nur den Laien beeintrucken." Während solche Tricks  vielen heute als "harmonisch und frei" verkauft werden, ist das Erleben für das Pferd ein völlig Anderes. Nur , wiel man Dinge mit einem Pferd tun kann, sollte man sie auch tun? Wo bleibt da die Ethik?


Mit zunehmendem Wissen sollte zunehmende Ehrlichkeit sich selbst gegenüber entstehen. Das Hinsehen ist dann nicht mehr problematisch, wenn uns klar wird, das „perfekt“ immer eine Illusion bleiben muss. So gut wie heute möglich dagegen ist vielleicht machbar.

 

 

Mehr als nur ein Quäntchen Demut gehört dazu, wenn man mit dem Pferd umgeht. Demut vor den eigenen Grenzen und dem eigenen Unvermögen, der eigenen Menschlichkeit,  ebenso wie Demut vor der Großmütigkeit der Pferde, die so oft Willens und bereit sind, uns jeden Fehler mit einem Achselzucken zu verzeihen und immer dann rücksichtsvoll auf uns zu warten, wenn wir noch nicht mit ihnen Schritt halten konnten. Vielleicht ist es ihnen gar nicht so wichtig, wie wir den äußeren Rahmen gestalten, wenn die innere Haltung stimmt.