Verhältnis-Mäßig

Verhältnis-Mäßig

Mein „Pferdeonkel“ war ein starker Mann, das Leben hatte ihn dazu gemacht: Krieg, Flucht, dann der Aufbau einer neuen Existenz , die Versorgung der Familie – in seinem Leben gab es wenig Raum für Schwäche, für Sentimentalitäten, für Emotionalität.
Umso beeindruckender war sein Zusammensein mit den Pferden in seinem Leben, die er ganz offensichtlich wirklich innig geliebt hat. Fair, konsequent, ruhig, und untypisch zärtlich. Gerade dieser Widerspruch hat mich ganz eindrücklich fasziniert.
Ich kann mich gut an eine Diskussion erinnern, in der es darum ging, dass nun eins seiner Pferde sich verletzt hatte. Obwohl die Prognose nicht aussichtslos erschien, entschied er sich, sein Pferd zu erlösen. Mit erschien das unverhältnismäßig, immerhin gibt es doch genügend Pferde, die immer mal wieder Probleme haben und dann eben eine Auszeit nehmen, therapiert werden , sich arrangieren. Und ganz genau das, erklärte er mir, wolle er eben für seinen besten Freund nicht: sein Leben solle kein Arrangieren sein, es solle sein Leben voll leben können. Ein Pferd, so sagte er, dass nicht laufen könne, könne kein Pferdeleben führen, selbst dann, wenn es sich dabei „ nur“ um ein oder zwei Jahre handle, beharrte er. „Und danach, Mädchen? Weißt Du, was dann wird, ob er sich ganz erholen kann? Dann war sein letztes Jahr voller Schmerzen und Stress, das hat er nicht verdient!“, gab er zu bedenken. Die Natur des Pferdes sei es nicht, mit solch einer Schwäche sein Leben genießen zu können.
Leben, heißt ja nicht, nicht zu sterben.
Ihm ging es nicht um den „Nutzfaktor“, darum, mit dem Pferd etwas machen zu können, sondern darum , seinem Freund etwas bieten zu können, was allein in seiner Verantwortung lag: er war bemüht darum, alle Weichen im Leben des ihm anvertrauten Lebewesens „pro Pferd“ zu stellen. Leid wollte er vermeiden, sein Pferd sollte kein Dauerpatient werden, zumal, erklärte er mir, so etwas das Verhältnis zwischen Mensch und Pferd ungut verschiebe, das Pferd in eine solche passive , abhängige Beziehung über das sowieso schon offensichtlich herrschende Maß hinaus zum Menschen gebracht werde, dass Partnerschaft auf Augenhöhe unmöglich sei, es käme zu einem Missverhältnis, in der sich ein ungutes Machtgefüge ergebe, der Mensch die Demut vor dem Pferd verliere und schnell übergriffig würde. Die Geschichte von gut gemeint und gut gemacht eben...

Wir leisten uns heute auch Pferde, die nicht einhundert Prozent fit sind. Das ist ein echter Luxus!


Ich habe damals seine Gedanken nicht verstehen können, zumal ich selber ein Pferd hatte, dass mit mehreren Handicaps und Einschränkungen zu kämpfen hatte, in meiner täglichen Arbeit ein großer Teil meiner Energie dahineinfließt, Pferden mit Problemen zu helfen, sei es in der Rehaarbeit oder natürlich im Pferdegesundheitstraining mit den Pferden meiner SchülerInnen. Auch mein Pferd hatte viele Phasen in seinem Leben, in dem es durch Verletzung, Krankheit oder andere Umstände erheblich eingeschränkt war und immer wieder habe ich es da rausgearbeitet und herausgepflegt. So auch bei vielen meiner SchülerInnen: ihre Pferde brauchen oft aufwendiges Management mit wenig Spielraum , können nur wenig kompensieren, um ein einigermaßen inhaltsvolles Pferdeleben zu führen.

Therapie, Training, gezielte Ernährung: wir können heute viel für unsere Pferde tun. Wie sollten dabei aber nicht über das Pferd hinweg helfen wollen und das PFerd so entmündigen.


Noch niemals in der Geschichte haben sich Menschen so viele und so schwer kranke Pferde geleistet wie heute. Ob nun durch Unfall oder Krankheit, Zucht oder falsche Haltung, Fütterung oder Training, falsche Hufbalance oder unpassendes Equipment, Fehldiagnose oder Behandlungsfehler in Therapie oder Eingriff: Auslöser für die eingeschränkte oder gar zerstörte Gesundheit moderner Pferde gibt es viele, kaputt gemacht ist nunmal schnell, die Folgen oft verheerend.
Hatte mein Onkel Recht? Macht dauerhafte Krankheit beim Pferd etwas mit unserem Verhältnis, verschwindet das Pferd dahinter und wird allein zum Patienten ? Verlieren wir die Demut und die Fähigkeit zum Respekt in unserem Wunsch zu helfen? Ist das noch Verhältnis-mäßig?
Erkennen wir , die wir so eingebunden sind in den Druck steter Pflege und Therapie, dem ewigen Hoffen und Bangen um Besserung und dem nächsten Tiefschlag, dem oft jahrelangen Ringen mit dem Schicksal und dem Kampf um Lebensqualität für unsere Pferd den Zeitpunkt, an dem wir durch unser Tun nur mehr Leid produzieren, statt dem Pferd zu helfen? Wann wird Weiterleben Un-Verhältnis-mäßig?
Rücksichtnahme auf den Partner Pferd besteht doch wohl als Allererstes immer darin an, ihn zu sehen. Und dann etwas auszusinnen, was dieses Leben pferdegerecht macht.

Was macht ein pferdegerechtes Leben aus? Das kann ganz unterschiedlich sein. Dinge wie angemessene Ernährung, Sozialkontakt zu Artgenossen , freie Bewegung und frische Luft sind zuerst einmal das, was alle Pferde brauchen. So viel und so oft, wie es geht , sollte das gewährleistet sein.


Bitte, nicht falsch verstehen: eine Zerrung ist kein Grund, ein Pferd zu erlösen, Krankheiten können immer mal passieren, das Leben besteht nicht nur aus Sonnenschein und Krisen gehören dazu und manchmal sind es Kleinigkeiten, die Großes bewirken. Es gibt ganz, ganz viel, was wir heute für Pferde tun können und eben genau weil das so ist und es Therapien und Kuren für und gegen alles zu geben scheint, erscheint es uns so sehr wie persönliches Scheitern wenn ein Pferd nicht mehr künstlich am Leben gehalten werden kann. Pferde haben keine Möglichkeit zur Patientenverfügung, es ist immer an uns, zu entscheiden . Wir müssen uns in jedem Moment die Frage stellen: ist das, was wir tun, wirklich pro Pferd? Wann kommt der Augenblick, an dem das Pferd kein Pferd mehr ist und nur noch Patient? Hat dieses Pferd wirklich Lebensqualität, kann es so leben, wie es das individuell für sich wünschen würde? Verlieren wir den Blick für das Wesentliche, das Tierwohl? Ist das, wie wir miteinander sein können, verhältnismäßig im Sinne von Partnerschaft auf Augenhöhe?
Ist es fair, ein Pferd bleiben zu lassen, weil wir es nicht gehen lassen können?
Und so ist die schwerste aller Entscheidungen oftmals der größte und wichtigste Dienst, den wir unserem Partner Pferd erweisen können, wenn wir es mit Respekt und Demut sehen können. Auch das ist ein Grundsatz modernen Tierschutzes: Leid vermeiden und verhindern, wie wir das gewohnt sind, ein Leben lang für unsere Pferde zu tun.

Krankheit kann immer mal wieder passieren, sollte aber nicht der einzige Lebensinhalt von Pferd und Besitzer:innen sein.