Von der Hand in den Mund- Zaumkunde bei den alten Meistern
Kaum ein Thema erhitzt in der Reiterwelt so sehr die Gemüter wie die Frage nach der richtigen Zäumung. Da werden Meinungen ausgetauscht, Erfahrungen geschildert, persönliche Präferenzen angegeben- natürlich immer entsprechend der Reitweise, in der ein Pferd ausgebildet werden soll. Was dabei zu kurz kommt, ist das konkrete Wissen um die Wirkung der verschiedenen Zäumungen und Gebisse. Was machen sie im Pferdekörper? Und ist die Wahl der richtigen Zäumung wirklich so wichtig, wo doch jede Reitweise anstrebt, das Pferd vom Sitz und keinesfalls mit der Hand auszubilden, also so zügelunabhängig oder leicht in der Anlehnung wie möglich zu schulen?
Schon bei Gueriniere stand die Zaumkunde auf dem Lehrplan. Seine " École de Cavallerie " erscheint 1733
Die Zunge ist spannend: sie ist der einzige Muskel, der nur an einem Ende befestigt ist. Das, was wir von unseren Pferden kennen, ist oftmals nur
die Zungenspitze. Mit dieser rollt das Pferd aufgenommenes Futter und schiebt Gekautes in die Backen, bevor letztlich geschluckt wird. Wie jeder andere Muskel des Körpers kann und muss eine Zunge
trainiert werden. ( Bildquelle: Universität Zürich)
Die Dicke der Rolle von Gras oder Rauhfutter kann Aufschluss darüber geben ,wie viel Platz im Pferdemaul für ein Gebiss ist. So dick darf ein
Mundsstück maximal sein. Das Gebiss liegt auf der Zunge an der Stelle, wo diese Rolle gebildet wird.
Pluvinel erkannte, dass ein Pferd " eher den Reiter auf dem Rücken, als das Gebiss im Maul " ertragen kann. Le Bonite, der Hengst, den er zur Korrekturarbeit übernahm, wurde von ihm an das Gebiss gewöhnt, indem er die Kinnkette zuerst aus einer geflochtenen Seidenkordel, dann einem Stück Fell, dann Ziegenleder und erst ganz am Schluss mit einer üblichen Metallkette gestaltete. Er erklärte mit seiner Arbeit dem Pferd, wie es den Zaum für sich nutzen konnte während er am Kappzaum longierte.
Hierbei ist wichtig zu verstehen: die gebisslose Arbeit mit dem Kappzaum oder Varianten wie dem Nasband oder der Hakina ( Hackamore) wirken über den Schädel direkt auf die Wirbelsäule ein, das Pferd hat keine Möglichkeit, dem Impuls der Hand zu entgehen. Trüge es ein Gebiss, könnte es durch ein Öffnen des Mauls und „ Sperrens“ des Kiefers verweigern, dass die Hand des Menschen tief in seinen Körper eingreift und Einfluss auf Balancezustände nimmt. Bei gebissloser Arbeit ist das nicht der Fall, sie nimmt den Schädel viel stärker in Zwang, als ein Gebiss das könnte. Die Verantwortung über das, was die Hand dem Pferd mitteilt, ist also gebisslos ebenso, wenn nicht größer, als bei der Arbeit mit Gebiss. Es sollten nur Zäumungen gewählt werden, die durch ihre Mechanik das Pferd nicht „ mundtot“ machen, das Maul also zudrücken, so dass auch ohne Gebiss nach wie vor der Dialog mit dem Pferd erhalten bleibt.
Die "Hergabe des Genickes" ist ein absolut freiwilliger Akt . Das Pferd begibt sich buchstäblich in die Hand des Menschen. Was für ein Geschenk!
Hat also das angehende Reitpferd den Sinn der Einwirkung der Hand verstanden, wird es an ein Gebiss gewöhnt. Hier beginnt nun ein völlig neuer Abschnitt in Sachen Balancefindung: das Pferd muß lernen, die Züge um das Zungenbein zu nutzen, um sich und eventuell auch einen Reiter gesund tragen zu lernen ( über das Zungenbein und seine wichtige Funktion für den Pferdekörper kann man HIER weiterlesen). Das ist für die Findung der Balance ein Meilenstein für das Pferd: durch die Aktivierung einer sogenannten „ faszialen Kette“ , die das Zungenbein mit fast allen für die Bewegung, vor allem aber kraftübertragenden Strukturen im Pferdekörper verbindet gelangt das Pferd zu einer ganz anderen, für das Reitpferd unbedingt notwenigen Fähigkeit des Tragens. Das kann jedoch nur mit dem für dieses Pferd in diesem Ausbildungsstand und natürlich Alter passenden Gebiss funktionieren.
Die " rostrale Kugel" Schädel ( nach Evrard) ist Teil der Homöostase und nimmt Teil an Prozessen von Adaption und Kompensation im gesamten Körper. Will heißen: Dysbalancen im Schädel führen zu Dysbalancen im Körper- und vice versa. Balance fängt dort an, wo Unter- und Oberkiefer miteinander in Korrespondenz stehen. Nur eine lockere Zunge , die gegen die oberen Vorderzähne fallen kann kann helfen, diese Balance zu erhalten. Das kann für mache Pferde ein jahrelanger Lernprozess sein.
Winter von Adlersflügel erklärt diese Suche 1678 in seinem "Bellerophon":
Salomon de la Broue betont 1666 in seinem Werk " Le cavalerice francois" , nicht jedes Problem des Mauls darf nur an dieser Stelle des Körpers gesucht werden, vielmehr sei es notwendig, nicht nur das gesamte Pferd, sondern natürlich auch die Fähigkeit des Reiters und die vorausgegangene Ausbildung genau zu reflektieren um sicher zu sein, dass ein Problem mit dem Maul auch wirklich ein Problem des Mauls des Pferdes ist .
Man richtet im Frühbarock also sein Augenmerk auf das gesamte Pferd , versucht sich über Exterieur und Biomechanik des individuellen Pferdes ein Bild zu machen, wie diesem Pferd am Besten zur Balance zu verhelfen ist.
Jedes Teil hat seine Bestimmung: verschiedene Trensen und die verschiedenen Teile der Kandare bei Gueriniere.
Schon Grisone, Grüder der ersten Ritterakademie der Renaissance , widmete einen großen Teil seines Buches der Zaumkunde, die er mit aufwendigen Illustrationen dem Leser nahebringen wollte
Das Pferd muss immer als ein Ganzes betrachtet werden. Wann fließt Kraft ? Wann kann das Pferd sich am besten tragen? Im Laufe der Ausbildung sollte immer mehr an Tragkraft gewonnen werden.
Will heißen: die Vorderbeine müssen von der Last „entbunden“ werden, das Pferd muß verstehen, den Brustkorb von der Hinterhand aus zu heben. Die Ausbildung des Pferdes hat also nicht den Zweck, die Hinterhand zu schulen, sondern sie zu schulen, um den Brustkorb zu tragen. Nur so ist die gesunde Schwingung der Wirbelsäule in dreidimensionaler Richtung möglich.
Das Ziel der Ausbildung ist eine Hinterhand, die in der Lage ist, die Vorhand des Pferden leichter zu machen. Oder, wie schon Xenophon vor 2400 Jahren sagt: " Während Du das Pferd auf beiden Zügeln führst, sollst Du die Hinterbeine mit Deinen Schenkeln so unter den Leib nach vorne reiten, dass das Pferd in allen Gelenken der Hinterhand beugt, den Brustkorb aber erhebt und dem Gegenüberstehenden Bauch und Schamteile präsentiert."
Flexionierungen , wie hier bei Fillis, bei denen Zungenbein, Kiefer und Hals gelockert werden sollen, um das Pferd leicht in der Hand werden zu
lassen können dazu führen, dass man die Funktion des Zungenbeins außer Kraft setzt . Sind solche Übungen außerhalb einer therapeutischen Arbeit regelmäßig notwendig, muss die Arbeit überdacht
werden. Im Laufe der Zeit wird das Pferd, ist es denn ein Rückengänger, bei korrekter Arbeit in diesen Bereichen allein durch die Kraftübertragung aus seiner Hinterhand so gelöst, dass es
sich selber halten kann. Gut zu sehen ist hier das steife rechte Hinterbein, eine Folge des Balanceverlusts durch das Abbiegen des Halses. Ein lockerer Kiefer und gesund tätiges Zungenbein sind
ein Symptom eines Rückengängers, nicht jedoch die Ursache.
Es kann jedoch nur dann in seiner Funktion für den Halteapparat in Aktion treten, wenn das Pferd nicht gegen die Hand des
Reiters drücken muss, um sich vor der Einwirkung des Gebisses zu schützen. Das ist ein Schulungsprozess für das Pferd, der am Besten am Boden beginnt und dem Pferd in Ruhe erklärt,
was sein Körper mit einem Gebiss machen kann, so dass das Pferd Benefit durch das Tragen des Gebisses erfährt. Welches Gebiss dafür das richtige ist, ändert sich im Laufe von Lebensalter und
Ausbildungsstand des Pferdes immer wieder, so dass jede Pauschalempfehlung müßig ist und nicht seriös getroffen werden kann und sollte.
Noch letztes Jahr war eine Zäumung mit Kappzaum und Kandare mit einem Anzug mit relativ großem Hebel für Nyx am angenehmsten. Mittlerweile hat sie
sich Stellung seiner Vorderzähne ," Zangen" genannt, so verändert, dass für ihn ein Gebiss keinen Benefit mehr bringt. Wir arbeiten in Zukunft gebisslos, ein Caveson ist die Zäumung , von der er
im Moment am meisten profitiert. ( Foto: Martina Glahe)
Erst dann, wenn das Pferd gelernt hat, ein Gebiss so zu tragen, dass das Zungenbein am Tragen des eigenen Körpers die wichtige Funktion übernimmt, erst dann, wenn die Schultern so entbunden sind, dass das Pferd von der Hinterhand aus in Selbsthaltung gehen kann, erst dann, wenn Körpersprache oder Sitz so ausgebildet sind, dass der Reiter sich nicht mehr an den Zügel festhalten muss, erst dann kann von einer Einwirkung der Reiters zum Benefit des Pferdes überhaupt die Rede sein. Wir kommen an den Punkt, an dem wirklich von zügelunabhängiger Arbeit gesprochen werden kann und darf: der Weg für die Kraft aus der Hinterhand ist frei und kann dem der Reiterhand nun Informationen über Gelenks- und Muskeltätigkeit geben: „ Das, was du in der Hand hast, hast Du hinten nicht getan.“
ie Courbette bewirkt im Pferd eine völlige Entspannung im oeren Bereich des Schulterblatts, der Widerrist wird maximal zwischen beiden
Schultern angehoben. Von oben betrachtet wirkt das PFerd breiter im Widerristbereich bei gleichzeitger Tätigkeit in allen Gelenken der Hinterhand. Zieht man eine gedankliche Linie vom äußeren
Hinterbein lotrecht nach oben sieht, man, das das Hinterbein genau unter dem Schwerpunkt ist: das Hinterbein hat die Vorhand abgelöst und trägt das Pferd, beide Schultern sind
entbunden.